Immer in Bewegung sein. Könnte es sein, dass sich der Hamburger Onlinehändler Otto auf dem umkämpften E-Commerce-Markt auch deshalb glänzend behauptet, weil dieser unausgesprochene Leitsatz Teil des Selbstverständnisses ist? Eine Spurensuche in Hamburg Bramfeld, die nahelegt: es könnte.
Dass auch die den Namen des Unternehmens einrahmenden Buchstaben abgerundet sind, ist natürlich Zufall. Allerdings einer der gut passt zu den hier geschaffenen neuen Arbeitswelten. „Wir haben uns Gedanken gemacht, wie wir die Arbeitsplatzumgebung so gestalten, dass jeder Mitarbeiter ideale Bedingungen vorfindet, um das, was er kann, bestmöglich einzubringen“, sagt Philipp Poppe. Der 35-Jährige ist Projektleiter in der Flächenplanung bei Otto und hat an der Neugestaltung dieser Etage, durch die wir gerade schlendern, intensiv mitgewirkt. Das Ergebnis nimmt der Besucher, begleitet von einigen Beteiligten, nun in Augenschein. Erste Erkenntnis: Das klassische Büro-Rechteck sucht man vergeblich, stattdessen gehen die neu gestalteten Bereiche fließend ineinander über. Begrenzende Kanten finden sich hier nicht, dafür immer wieder farbige Säulen, die die Weite der Fläche aufbrechen. Zweite Erkenntnis: Die Gestaltung des Arbeitsumfeldes ist immer auch so etwas wie die kulturelle Visitenkarte eines Unternehmens und sagt einiges aus über dessen Menschenbild.
Wir sind im fünften Stock eines der beiden Hauptgebäude des Otto Stammsitzes in Hamburg. Auf dem gesamten Gelände arbeiten rund 8.500 Mitarbeiter. Auf dieser Etage sind auf 4.700 Quadratmetern die 250 Mitarbeiter der Business Intelligence angesiedelt. Diese Abteilung versteht sich als eine Art Service-Dienstleister für die anderen Abteilungen des Unternehmens, die unter anderem über die Generierung und Auswertung von Datenmaterial die Entscheidungsprozesse bei Otto optimieren will. Im Dezember 2017 wurden die neu geschaffenen Flächen für die dort tätigen Mitarbeiter freigeben. Die visuelle Klammer „Bergwelten“ findet sich in sämtlichen Bereichen dieser Abteilung wieder. Vom cafeteria-ähnlichen Social Space bis zu den Toiletten.
Activity Based Working
„Wir haben alles mit Flächenplanern, Möbeldesignern und vielen weiteren externen Fachleuten gemeinsam entwickelt“, erklärt Poppe. Federführende Innenarchitektin war Kerstin Pietzsch von agn Leusmann.
Statt des klassischen Schreibtischambientes mit in den Bildschirmrahmen gesteckten Bildern von den Lieben, Postkarten und persönlicher Topfpflanze gilt hier das Credo Activity based working: Jeder Mitarbeiter kann sich in der für seine aktuellen Anforderungen passenden Fläche niederlassen. „Und das idealerweise bei kompletter zeitlicher und örtlicher Autonomie. Jeder kann entscheiden, wann und wo er arbeitet, das ist uns wichtig, gerade im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie“, ergänzt Poppe, der selbst auch Familienvater ist.
Zu den verschiedenen Arbeitswelten gehört die „Homezone“, so etwas wie der Basispunkt, in der man sich an einen freien Schreibtisch (jeder dieser Arbeitsplätze hat zwei Bildschirme) setzt oder stellt, die Höhe der Tischplatte lässt sich in wenigen Sekunden verändern. Diese Zone ist noch am ehesten mit einem althergebrachten Großraumbüro vergleichbar. Nur dass es eben keinen festen Schreibtisch pro Mitarbeiter mehr gibt. „Jeden Morgen, im Grunde jede Stunde kann man neu entscheiden, an welchem Ort man arbeiten will, welches Umfeld zur in Angriff zu nehmenden Tätigkeit passt“, sagt Poppe. Für Gruppenbesprechungen oder Präsentationen stehen verglaste Konferenzräume mit Namen wie Großglockner oder Matterhorn zur Verfügung, in die man sich nach dem „Wer-zuerst-kommt-Prinzip“ per Outlook oder an einer Art Terminal direkt vor Ort einbuchen kann, die Wände sind bemalbar und magnetisch.
Für Brainstormings in kleiner Runde eignen sich die Thinktanks, kleine abgeschlossene Bereiche, „gut für ein spontanes Ideen-Pingpong“, findet Poppe. Der hochflorige Hauptflur ist ideal für die Trittschalldämpfung und grenzt zugleich Arbeitsbereiche und Verkehrswege selbsterklärend voneinander ab. „Wer von Punkt A zum entgegengesetzten Punkt C möchte, verlässt den Hauptflur instinktiv erst dann, wenn er am Ziel ist.“
Die Aufteilung und optische Abgrenzung der Flächen wurde mit der Münchner Farbpsychologin Susanna Leiser erarbeitet, die lebendige, farbige, aber nie aufdringlich-grelle Lösungen ausarbeitete.
An Knotenpunkten können sich Mitarbeiter oder Besucher auf punktuell angeordnetem Lounge Mobiliar niederlassen. Zweier-Sofas für einen entspannten Smalltalk oder eiförmige, futuristische Sessel mit Schreibtisch-Funktion aus den Werkstätten des Büromöbelherstellers König und Neurath, von dem auch diverse andere Objekte stammen. Jeder Bereich, jeder Sitz ist voll anschlussfähig, wie auch die schalldichte, telefonzellenartige Kabine, die sich insbesondere für vertrauliche Gespräche eignet und vom finnischen Hersteller Framery entwickelt wurde. Wichtig bei der Umgestaltung, sagt Poppe, seien auch die Meinungen der betroffenen Mitarbeiter, deren Vorschläge in die Prozesse miteinbezogen wurden.
Produktiv und in Bewegung
Egal, welche Zone der Mitarbeiter für seine Tätigkeiten auch gewählt hat, am Ende seines Arbeitstages kann er seine Arbeitsgeräte mit einer praktischen Tragebox in ein freies Schließfach überführen, so Poppe, was im Rahmen „unserer Clean-Desk-Policy“ natürlich wichtig ist.“
Das Prinzip „Produktiv und in Bewegung“ erstreckt sich nicht nur auf diese neugestaltete Abteilung. Auch in der frisch renovierten Kantine Elbe, oder den beiden Bistros befinden sich überall Docking Stations und Steckdosen. Sogar auf dem grünbepflanzten Boulevard, der die einzelnen Gebäude bei Otto miteinander verbindet und zur Mittagszeit von Food-Trucks angesteuert wird, sind an den Bänken wasserdichte Stromquellen angebracht. „Wenn in Hamburg schon mal die Sonne scheint, sollte man auch draußen arbeiten können“, findet Poppe.
Nach und nach sollen die anderen Ebenen des Hauses folgen. Zusammengefasst folgt die Umgestaltung der Prämisse: Eigenverantwortung stärken, das Wohlbefinden und das Gefühl, wertgeschätzt zu werden steigern und möglichst alles tun, damit jeder Mitarbeiter in der Lage ist, produktiv und kreativ zu sein. Dieser Ansatz äußert sich mitunter auch in kleinen Details.
„Ich mag zum Beispiel die mobilen Whiteboards“, sagt Irene Heshmati. „Mit denen lassen sich sehr gut spontane, kurze Meetings abhalten. Manchmal fotografiere ich die Ergebnisse mit dem Handy noch kurz ab und verwerte das Material dann später.“
Sie nimmt eingerahmt von ihren Kollegen auf einer weit geschwungenen Holzbank Platz und nippt an ihrem Getränk. Der gemütliche Winkel ist Teil des sogenannten Social Space der Etage. Einem Café im Skihütten-Stil. Überall finden sich in diesem offenen Bereich kleine unaufdringliche Referenzen an ein modernes, alpines Ambiente. „Die Kollegen, die diese Flächen gestaltet haben, wollten das Oberthema Bergwelten sichtbar machen, ohne es aber zu übertreiben“, erläutert sie. Heshmati ist Leiterin der Initiative FutureWork, die die sukzessive Umgestaltung aller Arbeitsbereiche begleitet. „Wir verstehen uns ganz klar als Initiative und nicht als Projekt“, betont sie. Denn „ein Projekt hat ein Anfang und ein Ende.“ FutureWork solle sich aber dynamisch entwickeln. „Wir wollen die Veränderungen, die die Umgestaltung der Arbeitsbereiche aller Otto Mitarbeiter nach sich zieht, begleiten, beobachten und aus diesen Erfahrungen die richtigen Lehren ziehen, um die nachstehenden Prozesse weiter zu optimieren.“
Wie der Name anklingen lässt, zielt FutureWork darauf ab, den Arbeitsplatz von morgen zu entwickeln, also ein Arbeitsumfeld zu gestalten, das jedem Mitarbeiter ermöglicht, selbstbestimmt, eigenständig und zugleich teamorientiert zu arbeiten. Dieser Social Space sei ein gutes Beispiel, sagt Heshmati. „Hier kommen Mitarbeiter zwanglos zusammen, die ähnliche Dinge tun, aber sonst vielleicht nicht zusammenfänden. Man spielt vielleicht eine Runde Tischtennis und tauscht sich im Idealfall über seine Tätigkeiten aus.“ Aus solchen „gelenkten Zufällen“ erwachse Produktivität“, ist Irene Heshmati überzeugt.
Kulturwandel 4.0
„Ähnlich wie FutureWork bei Otto beschäftigt sich innerhalb der gesamten Otto Group der Kulturwandel 4.0 mit der Frage, wie die Mitarbeiter in Zukunft miteinander umgehen und arbeiten wollen.“ Vor etwa zwei Jahren wurde der Kulturwandel 4.0 ausgerufen, Führungsrollen und -strukturen neu definiert und ausgerichtet. „Die Kommunikation ist jetzt weniger vertikal“, sagt Heshmati, wozu auch die 2016 eingeführte „Du-Kultur“ beigetragen habe, von der das Unternehmen bereits jetzt profitiere. „Meine Beobachtung ist, dass durch diese Verhaltensänderung in der Kommunikation Formalität abfällt.“ Das fördere eine offene, klarere Kommunikation, in der man viel eher bereit sei, auch kritische Dinge anzusprechen und direkt zum Punkt zu kommen, was Zeit und Energie spare. „Wenn ich es heute nicht pünktlich zu einem Gespräch schaffen sollte, schreibe ich schnörkellos in die Betreffzeile `Fünf Minuten später´ und keiner nimmt es mir krumm. Früher hätte ich eine vollwertige Mail mit An- und Abrede aufgesetzt und aus fünf Minuten wären zehn geworden.“
Dieser neuen Kultur werde mit der Umgestaltung der Bürolandschaften nun auch in räumlichen und technischen Fragen Rechnung getragen werden. Das alles ist nach Heshmatis Überzeugung Teil eines großen Ganzen. Jede Veränderung in der Kommunikationskultur tangiere auch andere Bereiche des Arbeitsalltags bei Otto, denn von dieser leite sich im Grunde alles ab. Sich wohlfühlen und sich gleichzeitig hohe Ziele zu setzen, sei beileibe kein Widerspruch. Im Gegenteil, beides bedinge einander in vieler Hinsicht.
„Die neue Arbeitsumgebung soll uns in die Lage versetzen, so produktiv wie möglich zu arbeiten. Denn natürlich ist das hier keine Freizeiteinrichtung.“ Die Ziele jedes Mitarbeiters seien klar zwischen Mitarbeiter und Führungskraft definiert. „Über unser Dialog-Tool kann man jederzeit seine Selbsteinschätzung mit der seiner Führungskraft vergleichen“, sagt Heshmati.
Trotz großer persönlicher Freiheit des Einzelnen, zu der etwa auch gehöre, dass man selbst entscheidet, ob man mal für ein Stündchen – „kurzer Eintrag in den Kalender, fertig“ – das hauseigene Fitnessstudio aufsucht, um mal den Kopf frei zu kriegen, oder einen Home-Office-Tag einschiebt, weil etwa das Kind krank geworden ist, geht es natürlich auch um Zahlen. Aber die könne man „oft vielleicht sogar besser erreichen, wenn die Krawatte etwas lockerer sitzt.“
„Über Ergebnisse bewertet werden“
„Wenn man eine hätte“, wirft Conny Dethloff ein. Der 43-jährige leitet einen Bereich innerhalb der Business Intelligence und ist so etwas wie einer der Hausherren dieser neugestalteten Räumlichkeiten. Dethloff trägt im Gesicht einen gepflegten Vollbart, am Oberkörper ein weißes Hemd mit aufgerollten Ärmeln – und, zumindest heute, keinen Schlips.
„An die neuen Strukturen mussten sich manche sicher erst einmal gewöhnen. Eigenständig zu arbeiten bedingt natürlich auch, immer wieder aufs neue Entscheidungen zu treffen, das muss man erst einmal lernen.“
Auf Dethloff selbst, der ein bisschen wie eine Mischung aus IT-Experte und belesenem Seemann wirkt, trifft das nicht unbedingt zu. Der verheiratete Vater von zwei Kindern ist seit 2012 im Unternehmen und lebte die neuen Strukturen bereits vor, als sie noch gar nicht existierten. „Ich bin ein Mensch, der sich die Freiheiten, die er braucht, nimmt. So war ich schon immer, so wurde ich erzogen. Homeoffice habe ich schon praktiziert, als es hier längst noch nicht üblich war. Ich habe nicht darum gebeten, sondern nur informiert. Dass man das so akzeptiert hat, spricht in meinen Augen für unsere Firmenkultur“, sagt Dethloff, der mit seiner Familie im 200 Kilometer entfernten Rostock lebt. Zurzeit arbeitet er von Dienstag bis Donnerstag in Hamburg und an zwei Tagen von zu Hause aus.
„Ich werde ungern über meine Anwesenheit bewertet, sondern lieber über meine Ergebnisse. Wie ich die gemeinsam mit meinem Team erziele, ist letztlich meine Sache. Und so möchte ich, dass wir alle miteinander umgehen.“
Pudelwohl
Die neue Arbeitsumgebung werde insgesamt vorzüglich angenommen, produktivitätssteigende Effekte seien sofort spürbar gewesen. „Allein schon, weil die Wege zueinander kürzer geworden sind. Die Kommunikation ist jetzt viel dichter als früher“, bestätigt er die Einschätzung Irene Heshmatis. Viele Gespräche, die einen weiterbrächten entstünden jetzt spontan im Social Space. Früher hätte man über irgendwelche technischen Tools ein Meeting anberaumen müssen. „Dabei ist es doch die unmittelbare Kommunikation, die uns als Menschen auszeichnet.“
Ein weiterer positiver Aspekt der neuen, aufwändigen Gestaltung der Arbeitswelt seiner Abteilung sei für seine Mitarbeiter und ihn, dass alle spürten, dass Otto dies nicht getan habe, um kurzfristig den Umsatz zu steigern, sondern aus einer grundsätzlichen Überzeugung heraus. Dem Wunsch nämlich, dass man seine Mitarbeiter glücklich machen, dafür sorgen wolle, dass sie sich rundum wohl fühlten. Dieses Ziel scheint bereits erreicht. „Ich kann sagen, dass wir uns hier pudelwohl fühlen“, sagt Dethloff, der betont keinen Unterschied zu machen zwischen Arbeits- und Freizeit. „Wir sollten jederzeit der Mensch bleiben können, der wir sind, wir sind zum Glück nun mal keine Maschinen.“
Pudelwohl fühlt sich auch der Berichterstatter, der sich bei dem Gedanken ertappt, nichts dagegen zu haben, diesen Artikel direkt hier zu schreiben. In diesem bemerkenswerten fünften Stock in Hamburg Bramfeld.
Fotos: Otto Group, Hamburg, Fotograf: Torsten Helmke
Autor: Jonas Demel
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